veterinär (oder schmerz ist subjektiv)
2005 - 2015
Durch die Linse entdecke ich, wie unterschiedlich sich Schmerz in den Kreaturen ausdrückt, und sich auf die Umgebung überträgt. Mal durch Projektion, weil wir meinen, den Schmerz im Blutverlust der Gebärmutterausstülpung nach einer Geburt mitfühlen zu können, mal durch die offensichtliche Angstschreie der Tiere angesichts der bevorstehenden Schlachtung.
Mal in der Angst der Besitzer, ein geliebtes Familienmitglied zu verlieren, mal im Ärgernis über ein Nutztier, das sich seiner Nutzung entzieht, indem es stirbt. Eine verlorene Investition, da ja jede Besamung durch den Tierarzt auch kostet. Trotzdem wird die Hilfe des Tierarztes immer wieder nicht rechtzeitig in Anspruch genommen - viele Bauern wollen sich die Kosten sparen, und melden sich erst, wenn es zu spät ist.
Wie im Falle der nächtlichen Totgeburt. Auch Kälber können verdreht in der Gebärmutter liegen - bei der Abkalbung kann dann trotzdem keine Abhilfe mittels ‘Käubeziagn’ (Kalbziehen) durch den Bauern mehr geschaffen werden, und ein Arzt müsste ran. Enttäuschung beim Bauern, Wut beim Mediziner.
So wird das tote Tier schließlich aus dem Stall unter den nächsten Baum gezogen.
Was auffällt, ist, dass die abgekalbte Kuh selbst nicht viel aufhebens betreibt um ihren Nachwuchs und die erlittene Pein. Bissl erschöpft vielleicht, aber nicht außer sich. Frei auf der Rückfahrt dazu trocken: “Es ist vorbei, sie steht wieder auf und frisst weiter. Schmerz ist subjektiv.”
Bei meinem Besuch am Schlachthof mit dem Veterinärmediziner spätabends zur ersten Lebensmittelkontrolle vor der Schlachtung ist die Panik der Schafe fast greifbar; sie wissen was ihnen bevorsteht. Frei erklärt mir minutiös den Ablauf des kommenden Tages: Betäubung, Tod, Ausblutung, Ausweidung usw. Meine Phantasie geht mit mir durch, mir graut ungeheuerlich. Er beruhigt mich, meint lakonisch, das sei nun mal so, die Tiere würden nichts mehr spüren, und es sei alles nicht so wild wie man sich das vorstelle. Ich versuche mich zu beruhigen, außerdem esse ich ja Fleisch. Ich sollte ohnehin wissen, was da genau passiert.
Später sind wir in seiner Kleintierpraxis, ein Katzerl hat sich was eingetreten. Die ganze dreiköpfige Familie ist mitgekommen und beruhigt das verängstigte Tier während Frei mit routinierten Händen entfernt, was entfernt werden muss.
Dr. Frei bewegt sich mühelos zwischen diesen Extremen – er tröstet, diagnostiziert, heilt und verabschiedet. In seinem Dasein, das sich so untrennbar mit den Körpern anderer Lebewesen verwebt, zeigt sich die widersprüchliche Schönheit des Mitgefühls und die stille Härte des Lebenskreislaufs.
Wen eigenen wir uns letzten Endes wie an? Aus Liebe? Aus Hunger?