SCHWESTER


Narrativ 2025

Jenseits der Stille


Frauen, Fürsorge, Unsichtbarkeit – eine Suche nach dem, was unsere Gesellschaft verdrängt. Und warum Care-Arbeit überlebenswichtig und radikal ist.

Ich bin ausgetreten, da war ich keine zwanzig. Firmung, Erstkommunion, all das war selbstverständlich – man hat nicht gefragt, ob man das will. Später, als ich begann, das System mehr zu hinterfragen, entstand ein großer Widerstand in mir: Missionierung, Gewalt gegen Kinder, gegen Frauen, jahrhundertelange Ausgrenzung. Eine Institution, die nicht nur predigte, sondern beherrschte. Die Frauen klein hielt, schwach sprach, still machte.

Und trotzdem lebe ich zwei Wochen im Kloster, bei den Missionsschwestern vom Kostbaren Blut in Wernberg. Ich komme mit großer Skepsis. Aber auch mit echtem Interesse: Was bleibt, wenn man all das – die Strukturen, das System, die Macht – einmal weglässt? Wer bleibt? Welche Geschichten werden sichtbar, wenn man den Blick auf das richtet, was in unserer Gesellschaft nicht nur übersehen, sondern tatsächlich systematisch ausgeblendet wird – alte Frauen, Fürsorge, Verbundenheit, das stete Sorgen um andere? Und was bedeutet es, sich diesem Leben ganz zu verschreiben – als Frau, mit Brüchen, Enttäuschungen, und einem langen Atem?

Was ich finde, ist keine heile Welt, aber eine besondere. Eine, die jenseits der Stille liegt. Die Arbeit dieser Frauen ist leise, oft unsichtbar, und doch radikal in ihrer Konsequenz. Ihre Tage sind voll von Care – körperlich, seelisch, spirituell. Ein Netz aus Sorge und Aufmerksamkeit, das sie selbst weben und das sie gleichzeitig trägt. In Gesprächen öffnen sich Geschichten, in denen sich Brüche zeigen, Zweifel, Umwege, enttäuschte Erwartungen. Große Entscheidungen wurden getroffen, oft aus Hoffnung, Idealismus, dem Wunsch nach Sinn – und führten nicht selten ganz woanders hin. Was bleibt, ist das Arrangieren mit dem, was ist.

„Du bist zu schwach“, hört eine Schwester, als sie sich für die Missionsarbeit meldet. Banaler Satz. Und doch: ein Echo, das viele Frauen kennen. Diese Strukturen, diese Einordnungen – sie sind menschengemacht. Wie alles hier.

Es menschelt. Im Guten wie im Schwierigen.

Und mittendrin: Schwester Monika. Mit ihren 56 Jahren die Jüngste im Haus. Tatkräftig, energisch, organisiert, offen – sie trieb vieles an, war Bindeglied zwischen Alt und Neu, kümmerte sich um Gäste, Organisation, Kindergarten, Projekte. Schon bei unserem ersten Treffen erzählte sie begeistert von einem roten Rock früherer Novizinnen, den sie für unser Shooting unbedingt tragen wollte. Ein leuchtendes Rot, das gegen das Vergessen anstrahlt. Ihre Mitbewohnerin Sr. Hema suchte dafür eine alte Garnitur heraus, fand einen passenden Rock – obwohl Monika aufgrund von Krebs schon sehr abgemagert war.



Auf dem Kasten in ihrem Zimmer hängen große, handgeschriebene Listen. To-do-Zettel, die nicht mehr ihr eigenes Arbeiten strukturieren, sondern bereits ausgerichtet sind auf ihre Abwesenheit. Wer übernimmt welche Aufgabe, wenn ich nicht mehr bin? Eine Fürsorge, die über das eigene Leben hinausdenkt.

Zwei Wochen nach unserem letzten Termin stirbt sie. Eine Woche nach der Beerdigung führe ich die restlichen Interviews – in Gesichtern, in Haltungen, in Sätzen liegt ihre Leerstelle. Monika fehlt. Ihre Energie, ihr Lachen, ihr Organisationstalent. Kaum eine hier, die nicht mehrfach betont, wie groß diese Lücke ist. Und doch geht es weiter. Es muss. Auch das gehört zu diesem Ort: weitertragen, was andere hinterlassen.

Jacobe, gut 90, sitzt an einem kleinen Tisch in ihrem Zimmer. Vor ihr: Stapel von Zeitungen, dazwischen gepresste Blätter und Blüten. Sie zeigt mir begeistert ihre Sammlung, zieht große Blätter hervor, kleine filigrane. Ihre Werke – Kerzendekor, Karten – verkaufen sich bis heute im Klosterladen. Als sie sich über den Tisch beugt, wirft sie mit einer Bewegung, so lässig wie die eines Rappers, ihren Schleier über die Schulter, um besser sehen zu können. Ihre Hände tasten, sortieren, erinnern. Die Handarbeit als eine Art gelebtes Archiv.

Anaclet, fast 80, besucht regelmäßig das nahegelegene Altersheim in Villach. Ich folge ihr durch lange Gänge, in Zimmer. Sie hält Hände, hört zu, erinnert sich, streichelt. Ihre Fürsorge endet nicht mit der Schwäche der Körper – sie beginnt vielleicht sogar gerade dort.

Sr. Paulis, schwer dement, sitzt oft still im Rollstuhl. Blickt in den Garten, auf eine Marienstatue. Wenn eine Schwester sie in den Arm nimmt, ist das keine Geste, es ist Sprache. Eine ganze Geschichte. In einer solchen Umarmung verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart, Form und Funktion, Krankheit und Würde. Pflege ist hier kein Vorgang, sondern Beziehung. Sie hört nicht auf. Sie verwandelt sich.

Trotz finanzieller Verluste betreiben die Schwestern weiterhin ihren Gäste- und Seminarbetrieb. Aus Überzeugung. Weil Offenheit für sie Teil der Mission ist. Weil Gastfreundschaft mehr ist als ein Akt – sie ist Haltung. Wer hierherkommt, erlebt keine Show, keine Attraktion. Sondern: Alltag. In einer Variante, die in unserer Gesellschaft kaum sichtbar ist.

Inmitten all dessen wird eines klar: Diese Arbeit, diese Präsenz, dieses tägliche Tun ist überlebenswichtig – nicht nur für das Kloster. Es ist radikal. Es ist politisch. Es ist der Gegenentwurf zu einem System, das Fürsorge auslagert, entwertet oder romantisiert. In Schwestern verbinden sich Sichtbares und Unsichtbares: die Rituale im Klosteralltag, die Geschichten hinter den Gesichtern, das Rot eines Rocks, der sich der Unsichtbarkeit widersetzt. Und die Erkenntnis: Care ist kein weiches Thema. Es ist ein Fundament.

Monika



Anaclet